
Der Weg des Yoga hat in vielen Traditionen Samadhi als Ziel. Samadhi meint die Transformation unseres Geistes. Eine Transformation des Alltagsbewußtseins, mit all
seinen Dichotomien, von Gut und Böse und all den emotionalen Ambivalenzen, hin zu einem, vom Bewußtsein der Verbundenheit geprägten, Einheitserleben.
Dieser Weg wird von Patanjali in den Yoga-Sutras genau beschrieben. Um für die Hindernisse auf dem Weg gewappnet zu sein, um auf das Ziel konzentriert ausgerichtet zu bleiben, ist ein klarer Geist wichtig.
Patanjali beschreibt als mögliche Hindernisse, u.a. Krankheit, geistige Trägheit, Zweifel, Verlangen nach Vergnügen und Ruhelosigkeit des Geistes durch Ablenkungen (Yoga-Sutras: I.30).
Wobei genau genommen, nicht die von außen auf uns zukommenden Ablenkungen das jeweilige Hindernis sind. Letztendlich verhindert „Vikshepa“, die „Zerstreutheit unseres Geistes“, dass wir auf unseren Yogaweg ausgerichtet bleiben.
Aber selbst wenn es uns gelingt, diese Ablenkungen durch Hindernisse in Schach zu halten, besteht immer noch die Gefahr, das eigentliche Ziel dadurch nicht zu erreichen, dass wir zu sehr auf dieses Ziel fixiert sind. Durch diese Verhaftung entsteht nämlich quasi eine erneute Trübung des Geistes.
Der Geist kann erst dann klar sein, wenn alle inneren Verhaftungen an Ziele aufgegeben werden, so erstrebenswert sie auch sein mögen.
Wie ist dieses Paradox zu lösen?
Mit Patanjali gesprochen kann dies durch die Kultivierung der vier Bhavanas geschehen (I.33). „Bhavan“ (Sanskrit) meint Aufenthaltsort, Wohnstatt.
Kulturhistorisch ist hier bemerkenswert, dass Patanjali sich mit diesem Konzept an den Buddhismus anlehnt. Dort spricht man von den vier Brahmaviharas. Etwas frei übersetzt, den vier, göttlichen Verweilszuständen.
Die vier Eigenschaften, die zu kultivieren sind, um unseren Geist klar werden zu lassen, sind im Einzelnen: Maitri (Liebende Güte), Karuna (Mitgefühl), Mudita (Mitfreude) und Upeksha (Gleichmut).
Maitri (Liebende Güte)
Liebende Güte ist ein umständlich klingendes Wortkonstrukt. Warum der Welt nicht einfach mit Liebe begegnen? Leider schwingt in der Liebe allzuoft Egozentrik, ein „für mich haben wollen“ mit. Dynamisch ist Maitri aber gerade nicht von dieser inneren, begierdevollen Spannung begleitet. Maitri meint eine Haltung der liebevollen Zuwendung und Freundlichkeit. So möge, auf gelassene Weise, eine herzliche, bedingungsfreie Hinwendung und Nähe zur Welt und den anderen Wesen entstehen.
Karuna (Mitgefühl)
Im Sinne der Schulung unseres Geistes meint Karuna Mitgefühl, Mitempfinden. Wahrscheinlich hast du schonmal die Erfahrung gemacht, dass es sehr hilfreich sein kann, sich in andere hineinzuversetzen. Dies bietet eine gute Möglichkeit eigene, starre, letztendlich von der Welt abgegrenzte Positionen ins Fließen zu bringen. Wobei Mitgefühl nicht mit Mitleid gleichzusetzen ist. Mitleid schafft allzuoft eine Asymmetrie zwischen den Beteiligten. Da gibt es welche, die bedauert werden und andere die, im besten Fall, helfen wollen.
Das Einfühlen in andere hat auch nicht das primäre Ziel, deren Leid aufzulösen. Gerade in dem mitfühlenden Anerkennen, in der Begegnung auf der Gefühlsebene, besteht das Befreiungspotential für den spirituellen Weg.
Mudita (Mitfreude)
Möglicherweise ist das Praktizieren von Mudita die schwierigste Übung. Wir leben in einer Welt, die die Herausbildung egozentrischer Persönlichkeiten fördert. Dem ewig nach „mehr“ strebenden Menschen fällt es sicherlich nicht leicht, Freude für Glücksmomente anderer zu entwickeln und zwar genau auch dann, wenn man selbst sozusagen „leer“ ausgeht. Aber genau das meint (bedingungslose) Mitfreude.
Erinnern wir uns kurz an das Ziel, das wir, mit dem Praktizieren der vier Bhavanas verfolgen. Zur Befreiung unseres ewig getriebenen Alltagsbewußtseins, wollen wir unseren Geist klar und fokussiert werden lassen. Dies kommt einer selbstbestimmten Abkehr vom egozentrischen „ich muss dies oder jenes noch in meinem Leben haben“ gleich.In diesem Sinne kann das ungewohnte „Mitfreuen“ mit den schönen Momenten anderer, ein hilfreiches Unterfangen sein.
Upeksha (Gleichmut)
Den Dingen, die uns der jeweilige Tag beschert, mit Gleichmut zu begegnen macht vor allem deshalb Sinn, um sich emotional nicht verstricken zu lassen. Wie oft reagieren wir reflexartig mit Gefühlswallungen auf nichtigste Gelegenheiten. Dabei ist es egal, ob positiv oder negativ gefärbte Gefühlsreflexe die Situationen dominieren. In diesen Momenten verlassen wir immer, das (yog.: sattwische) von Klarheit und Ausgewogenheit bestimmte Fahrwasser. Unser Geist dümpelt das eine Mal in träger (yog.: tamassiger) Verfasstheit vor sich hin, um dann vielleicht spontan wieder in einen (yog.: rajassigen) ereifernden Modus zu schalten. Dabei ist hervorzuheben, dass das Praktizieren von Upeksha nicht bedeutet, situativ gleichgültig zu reagieren. Upeksha meint vielmehr die Ausrichtung auf einen Zustand wach-aufmerksamer Gelassenheit. Eben mit klarem Blick auf das fokussiert zu bleiben, was uns wichtig ist.
Abschließend will ich darauf hinweisen, dass die vier Bhavanas keine Regeln sind, die es einzuhalten gilt. Yoga ist, in jeder Hinsicht, eine Lebensphilosophie des „Tuns“. So sind die vier Bhavanas Haltungen die sich erst über das Einüben mit der Zeit als Persönlichkeitsmerkmale verfestigen können. Sie bleiben dabei ein beständiges Übungsfeld, das uns zu Wachheit in unserer täglichen Auseinandersetzung mit der Welt auffordert ohne uns mit ihr in einem selbstverlorenen Übermaß zu identifizieren. (cv)