Die Qualitäten Sthira - Sukha

Das haben wir schon in einigen Yogastunden gehört: Die Berg- oder Heldenposition, ja alle Asanas, sollen an den yogischen Prinzipien Sthira und Sukha ausgerichtet werden. Sthira meint fest, unbewegt. Zeitgemäßer kann man es sicher auch gut mit „stabil“ umschreiben. Sukha ist Adjektiv und Substantiv, i.S. von Wohlbefinden oder freudvoll, angenehm. Damit wird auf Patanjalis Yoga-Sutren Bezug genommen. In der Hauptsache auf das Sutra II.46:

 

Sthirasukhamásanam

 

Danach ist die (Sitz-) Haltung zu meistern, eben wenn sie diese beiden Qualitäten aufweist.

Nun leiten wir Yogalehrende davon ab, dass alle Asanas günstigerweise nach diesen Grundprinzipien auszurichten sind. Obgleich Patanjali hier „lediglich“ die Sitzhaltung anspricht, ist die Verallgemeinerung, auf alle Yogapositionen, sicherlich richtig.

Wahrscheinlich ist es sogar i.S. von Patanjali, der sich hier lediglich auf die Sitzhaltung bezog, wenn wir die Verallgemeinerung der beiden Ausrichtungsprinzipien, weit über das physische Moment der eigentlichen Yogapraxis hinaus ausdehnend, interpretieren. Mit „Sthirasukhamásanam“ verweist er nämlich auf das Spannungsfeld der Polaritäten in dem wir uns im Leben oft hin- und hergerissen fühlen: Fest und freudvoll, geht das überhaupt?

Wie oft sind wir doch in Polaritäten gefangen. Wir mögen das eine und begegnen dem anderen mit Unlust. So entsteht nicht selten ein fortwährendes Spannungsfeld, das uns nicht zuletzt oft den Kontakt mit uns selbst oder zumindest den Kontakt mit dem jeweiligen hier und jetzt verlieren lässt. Ein Gefühl der Fremdbestimmtheit, vermeintlich vom Leben hin- und hergetrieben zu werden, stellt sich ein. Wir denken mit Unbehagen an den Montagmorgen und wünschen uns den vermeintlich angenehmen Sonntag zurück. 

Um die Darlegung der Prinzipien Sthira und Sukha zu verstehen, ist es wichtig die Folgesutren zu lesen. In den Sutren II.47 und II.48 präzisiert Patanjali, dass die Übenden frei werden von den Angriffen der Gegensatzpaare, durch ein Loslassen von Anstrengung und Meditation, Konzentration auf das Unendliche. Die Transformation des Spannungsfeldes der Gegensätze Festigkeit und Freude, im spezifischen, passiert durch ein Tun, das geprägt ist von loslassen einerseits und und einem ausrichten andererseits. Dabei ist die Aufforderung der Yogalehrenden dazu, im Konkreten genauso wichtig, wie das Innehalten im Allgemeinen unserer alltäglichen Lebenszusammenhänge. So kann die Bewusstwerdung unserer Widerstände, als erster Schritt, vollzogen werden. 

Dass wir uns, in einem weiteren Schritt, auf etwas Höheres ausrichten sollen, irritiert vielleicht zunächst. Dennoch, gerade für unsere Zeit, ist es meines Erachtens gut, hier sehr unverbindlich zu bleiben. Was  unser „Höheres“ ist, dazu müssen wir selber kommen. An dieser Stelle geht es um die Art und Weise, wie unser Geist funktioniert. Dessen Kultivierung, frei nach Patanjali, kann uns helfen, nicht vom Spannungsfeld erlebter Polaritäten in vielen Lebenssituationen aufgesogen zu werden, sondern sich weiterhin frei darin bewegen zu können, in dem wir unsere Integrität nicht angreifbar machen. 

 

Wenn es gelingt, auf dem unlustbesetzten Weg zur Arbeit den Gedankenstrom aus dem klein, klein des Tagesgeschäftes zu lösen, kann das sehr befreiend, ja erhaben sein. Solche Spontanerlebnisse hat wahrscheinlich jeder schonmal gehabt. Dies ist die Anleitung, sie zu kultivieren. Deshalb ist es wichtig, Patanjalis Worte nicht als rein körperliche Ausrichtungsprinzipien misszuverstehen. Die tiefere Bedeutung liegt in der Schulung der Ausrichtung unseres Geistes. (cv)