
Es gibt diverse, klassische, indische Philosophiesysteme, die sich seit Jahrtausenden mit den Grundfragen unserer Existenz beschäftigt haben und für das Yoga von Bedeutung sind. Hierzu gehört neben der Yoga-Philosophie (Patanjalis Yoga Sutras, Hatha Yoga Pradipika etc.), der Vedanta Philosophie (Upanishaden, Bhagavad Gita u.w.) auch die Samkhya Philosophie, die dem großen, indischen Weißen Kapila zugeschrieben wird.
Die Vedanta Philosophie ist eine monistische Philosophie. Das meint, dass sie sich immer wieder auf das „Eine“ göttliche Grundprinzip (Brahman) bezieht. Das Weltverständnis der Samkhya Philosophie hingegen ist dualistisch. Hier gibt es zwei Grundprinzipien unserer Existenz: Purusha und Prakriti.
Purusha ist reines Bewusstsein. Als rein geistiges Prinzip ist es ewig, unveränderlich. Prakriti ist das Manifeste (Urmaterie, Natur). Prakriti ist geprägt von Wandlung und Veränderung.
Im Verständnis der Samkhya Philosophie existieren diese beiden Grundprinzipien ursprünglich voneinander getrennt. Durch den Kontakt von Purusha und Prakriti, entsteht dann erst die Welt wie wir sie kennen. Die Dinge sind fortan von Eigenschaften gekennzeichnet. Genaugenommen sind es drei Eigenschaften, die sogenannten drei Gunas, aus denen sich die gesamte manifeste Welt, immer wieder in unterschiedlicher Gewichtung, zusammensetzt:
- Sattwa (Klarheit, Helligkeit, Ausgewogenheit)
- Rajas (Unruhe, Getriebenheit, Aktivität)
- Tamas (Dunkelheit, Trägheit)
Im Sinne des persönlichen Wachstums ist ein Maximum an Sattwa anzustreben.
Das Wort „Sattwa“ beinhaltet das Adjektiv „sat“ (wissend, weise). Martin Mittwede schreibt in seinem Sanskrit Wörterbuch, dass Sattwa die Bedingung für die wahre Erkenntnis des Selbst ist und dem Menschen zu einem freudvolleren Leben verhilft (Mittwede, Martin: Spirituelles Wörterbuch, Sathya Sai Vereinigung e.V., 2013, 316f).
Aber auch die anderen beiden Gunas sind für ein ausgewogenes Dasein von Bedeutung. Schlagen wir nochmals in Mittwedes Wörterbuch nach. So ist Rajas unabdingbar um Trägheit (Tamas) zu überwinden und damit als essentielle Kraft für alle Entwicklungsprozesse bedeutsam.
Der Eigenschaftsaspekt Tamas kommt, etwas lax gesagt, meistens am schlechtesten weg. Hier tut eine differenzierte Sichtweise Not: Was unsere geistige Verfasstheit angeht, sollte Tamas, um der Klarheit und Entwicklung willen, überwunden werden. Ein von Tamas bestimmt und geleitetes Bewusstsein kann die Wirklichkeit nicht adäquat erfassen (Mittwede, 2013, 358f). Tamas ist dennoch eine wichtige Eigenschaft. Beispielsweise beim stabilisieren von Materie. Tamas ist die Kraft, die jeglichem Schöpfungsakt erst, durch Trägheit, Stabilität verleiht. Dinge müssen zur Ruhe kommen, um zu sein.
Alle Erscheinungen sind das Ergebnis unterschiedlicher Gewichtungen der drei Gunas, sei es in Beziehungen zu anderen, in unserer Sichtweise der Dinge oder in unseren eigenen Bedürfnissen. Überall lässt sich das Mischungsverhältnis oder, besser gesagt, der jeweils dominierende Aspekt, mit unseren Worten, das dominierende Guna, ablesen und analysieren.
Dies ist von enormer praktischer Relevanz. Manchmal ist es so, dass wir feststellen, dass unsere aktuelle Bedürfnislage, beispielsweise stark von einem körperlichen Impuls nach Ausruhen dominiert wird (+ Tamas). Manchmal ist unser körperliches Bedürfnis vielleicht aber auch übermäßig von dem Wunsch nach Anerkennung (+ Rajas) geprägt.
Im Bereich unserer Beziehungsvorstellungen mag es Zeiten geben, die von dem übermäßigen Wunsch geprägt sind, dass andere etwas für uns tun (+ Tamas) oder vielleicht gekennzeichnet sind durch ein rigides Achten auf ein ausgeglichenes Geben und Nehmen (+Rajas). In solchen Fällen kann ein, an Sattwa orientiertes Changieren mit den Eigenschaftsaspekten, mal nicht an den eigenen Vorteil denken oder ein aktiv werden, um in ein von Erkenntnisgewinn dominiertes Bemühen zu kommen, hilfreich sein.
Das Konzept der drei Gunas kann uns helfen, auf unserem Weg der Persönlichkeitsentwicklung voranzukommen. Nämlich dann, wenn wir, in einem ersten Schritt, unsere Verfasstheit von Zeit zu Zeit auf die Dominanz von Rajas oder Tamas hin überprüfen. Stellen wir eine Unausgewogenheit fest, geht es in einem weiteren Schritt darum, eine entsprechende Haltung zu kultivieren, die das jeweilige Übermaß, auf eine konstruktive Weise, kompensieren kann.
Denn die Ausgewogenheit, die wir als sattwischen Zustand bezeichnen, ist in allen Bereichen unserer Lebenseinstellungen und Daseinsweisen, die Basis für eine Persönlichkeitsentwicklung, frei von Trägheit auf der einen und frei von Gefühlen der Getriebenheit auf der anderen Seite. (cv)