Standortbestimmung Yoga - der achtgliedrige Weg in Patanjalis Yoga-Sutras

Die Motivation in eine Yogastunde zu gehen, kann vielgestaltig sein. Viele Menschen beginnen, weil sie ein gutes Verhältnis zu ihrem Körper kultivieren möchten. Sie reagieren auf seine Signale, seien es Rücken-, Schulter- oder anderweitige Probleme, denen sie nicht oder nicht ausschließlich mit Medikamenteneinnahme oder anderen, von außen zugeführten, Hilfsmaßnahmen begegnen wollen. Gestreßte Menschen wissen wahrscheinlich insbesondere das yogische Entspannungspotenzial zu schätzen. 

War die ursprüngliche Motivation möglicherweise sehr bestimmt, so stellen sich mit der Zeit viele nachhaltige Effekte der Praxis ein.

Yoga kann so einen großen Einfluß in unserem Leben bekommen. Die sozusagen katalysatorische yogische Wirkkraft bringt uns dann vielleicht dazu generell besser mit unserem Körper umzugehen und sorgt, daraus resultierend, auch für ein anderes Denken und Handeln der Welt gegenüber.

Spätestens hier ist es gut, um der Veränderung eine Struktur anzubieten, sich bewußt zu machen, dass wir uns, mit unserer Praxis, an einem sehr alten, philosophischen Lebenskonzept orientieren können: Dem achtgliedrigen Weg in Patanjalis Yoga-Sutras (Sutra = Leitfaden/Vers).

Vielleicht ist es für unsere Zeit gar nicht so verwunderlich, dass wir diesen Weg nicht an seinem ursprünglich vorgesehenen Anfang beginnen, sondern wahrscheinlich wegen der oben beschriebenen Bedürftigkeit, in seiner Mitte.

Die derzeitige Vorstellung von Yoga hat meist etwas mit Körper und Atmung zu tun. Diese Aspekte des Praktizierens sind, sehr frei nach Patanjali, als drittes und viertes Glied in seinem Ashtangayoga (ashtan = acht, anga - Glied/Teil) wiederzufinden. Wobei Patanjali dem dritten Glied: Asana (Sitz-, Körperhaltung) lediglich drei (II 46 - 48) der knapp 200 Sutren widmet, in denen er im Wesentlichen äußert, dass der Sitz sthira (fest) und gleichsam sukha (freudvoll) sein soll. In weiteren fünf Sutras (II 49 - 53) geht Patanjali kurz auf die Praxis der Atemregelung (Pranayama) ein. 

Mit beiden Gliedern schafft er die physische Basis für die weiter auf dem Weg folgenden Stufen, der zunächst aktiv intendierten und im späteren Verlauf spontan eintretenden Einung. Seiner Definition folgend: Yoga ist das zur Ruhe bringen der Gedanken im Geiste (I 2), geht es im Weiteren zunächst darum, unsere nach außen gerichteten Sinnesaktivitäten nach innen zu wenden (Pratyahara = Rückzug). Das sechste Glied „Dharana“ (Konzentration) soll unseren unruhigen Geist sprichwörtlich „an einen Ort binden“. Dazu können wir unseren Atem beispielsweise an der Nasenspitze beobachten, ein Mantra ständig wiederholen oder eine andere Hilfestellung nutzen, um siebtens den meditativen Zustand (Dhyana) zu empfangen. Ob und auf welche Weise Samadhi dann eine Einheitserfahrung, ein mit uns in Kontakt kommen im Hier und Jetzt bedeutet, sei jedem, als ureigenes Erleben und gegönnt.

Die Selbstverwirklichung ist also nicht im Außen zu suchen, sondern im Innen, wie ein verborgener Schatz, von dem wir wissen, der aber nur unter Zuhilfenahme des entsprechenden Planes findbar  ist.

Aber das tolle an Patanjali ist, dass er, anders als viele andere  Urheber bedeutender Yogaschriften, diesem Weg, als tragende und über das individuelle hinausgehende Basis, als erstes und zweites Glied die Yamas (Zügel) und Niyamas (Notwendigkeiten) vorangestellt hat.

 

Yama: Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nicht-Begehren, Maß halten, Selbstbeschränkung

Niyama: Reinheit, Zufriedenheit, Disziplin, Selbsterforschung, Hingabe an eine höhere Kraft

 

Sie bilden, als Übungsfelder zur Herausbildung unserer Ethik ein Grundgerüst. Damit sind sie nicht nur Grundlage einer, eben in aller Kürze beschriebenen, persönlichen Transformation, sondern auch für ein gutes Auskommen mit uns selbst und den anderen bedeutsam. Ein Orientierung bietendes Übungsfeld, auf das wir uns immer wieder auf’s Neue, eben auch jenseits der Matte im Alltag, begeben können. Insofern sind die acht Glieder des Ashtanga-Yoga auch nicht stringent als Stufenmodell zu verstehen. Sie laden an verschiedenen Punkten, auf unterschiedliche Weise, zur yogischen Praxis ein. (cv)